Anneliese Hübscher; in Graphische Kunst Heft I / 1998:

Mechthild Mansel: Lebensgefühl und Ausdruck der menschlichen Figur.

 

Auf Umwegen kam Mechthild Mansel zur bil-
denden Kunst - vielleicht ist auch das ein
Grund für ihre ungeheure Arbeitsintensität.
Geboren 1959 in Dresden, nahm sie nach dem
Abitur 1979 das Studium an der Technischen
Universität Dresden, Fachrichtung Land-
schaftsarchitektur, auf. Graduiert zum Di-
plomingenieur, kam noch ein Zusatzstudium
der architekturbezogenen künstlerischen Ge-
staltung an der Hochschule für Bildende Kün-
ste in Dresden hinzu. Obwohl sie sich bereits in
dieser Zeit immer stärker zur bildenden Kunst
hingezogen fühlte, arbeitete sie vier Jahre als
Landschaftsarchitektin in Radebeul und als
Bauleiterin in Dresden. 1989 gab sie diesen
Beruf endgültig auf, um sich nunmehr aus-
schließlich der bildenden Kunst zu widmen.
Noch einmal begann sie zu studieren, dieses
Mal in Leipzig an der Hochschule für Grafik
und Buchkunst der Fachklasse Malerei/Gra-
fik bei Professor Rolf Kuhrt. Entgegen ihrer
ursprünglichen Absicht, sich der Malerei zuzu-
wenden, war es die Grafik, die sie mehr und
mehr fesselte und auch, neben einigen Bildern,
Schwerpunkt ihrer künstlerischen Diplomar-
beit 1993 war. In einem Aufbaustudium als
Meisterschülerin, das sich unmittelbar an das
Diplom anschloß, arbeitete sie bis 1997 in den
originalgraphischen Werkstätten der Hoch-
schule weiter, vornehmlich in der Werkstatt
für Radierung bei Professor Ulrich Hachulla
und in der Werkstatt für Holzschnitt bei Pro-
fessor Karl-Georg Hirsch. Auch im Umgang
mit der Lithografie gewann sie Sicherheit.
Unterbrochen wurde die Zeit intensiver gra-
phischer Auseinandersetzung durch einen
einjährigen Studienaufenthalt an der Accade-
mia di Belle Arti in Florenz bei Professor
Gianfranco Notargiacomo, wo sie die Farbe
neu entdeckte und ausschließlich malte.
Als Grafikerin hat sich Mechthild Mansel
von Anbeginn an sehr intensiv mit den klassi-
schen originalgraphischen Techniken Radie-
rung, Holzschnitt und Lithografie auseinan-
dergesetzt, bemüht alle Möglichkeiten, die
sich aus der Spezifik und der Bearbeitungsfä-
higkeit der unterschiedlichen Materialien Me-
tall, Holz und Stein ergeben, experimentell zu
erproben, um herauszufinden, welche graphi-
sche Ausdrucksform ihrem Temperament ent-
spricht und ihrem ganz persönlichen Aus-
drucksanliegen am weitesten entgegenkommt.
Das heißt aber auch: die Beherrschung des
Handwerks als Voraussetzung für die Realisie-
rung ihrer künstlerischen Intentionen war für
sie selbstverständlich, denn letztlich sind es
Mittel, die es dem Künstler ermöglichen, sein
ganz persönliches Anliegen, sein emotionales
Grundgefühl und seine geistige Haltung zum
Ausdruck zu bringen. Betrachtet man ihr bis-
heriges graphisches Oeuvre, so sind es eigent-
lich zwei Grundtendenzen, die bestimmend in

Erscheinung treten. In den großformatigen
Farbholzschnitten zum "Kreuzweg" dominiert
die lapidar vereinfachte Form, in ihrer
Flächigkeit haben die Blätter trotz aller Ex-
pressivität eine Ruhe, die manchmal lastend
wirken kann. Wohingegen die Radierungen in
ihrem nervös vibrierenden Lineament Un-
ruhe, ja mitunter Beunruhigung auslösen.
In all ihren Grafiken ist es der Körpergestus,
die Ausdruckskraft der menschlichen Figur,
die die individuellen Emotionen, ja das Welt-
gefühl einer Generation trägt und zum Aus-
druck bringt. In der Auseinandersetzung mit
traditionellen Themen der christlichen Kunst
mit den großen, fast schon zu Synonymen ge-
wordenen Mythengestalten der griechischen
Antike und mit der modernen Literatur findet
sie ihre Rahmenthemen, in die sie erlebte indi-
viduelle Einzelschicksale verallgemeinernd
einbringen kann.
In den Radierungen Mechthild Mansels ist der
Körper auf sich selbst gestellt. Er steht frei im
Raum und definiert sich durch sich selbst,
durch seine symbolhaft überhöhte Gestik. Aus
der Vielzahl der schon fast mechanisch abrol-
lenden oder konventionell eingeübten Alltags-
gesten, die wie "Redensarten" die Begegnung
zweier Menschen ohne tiefere Beziehung be-
gleite, hat sie einige ausgewählt und pantomi-
misch überhöht, so daß sie zu Abstraktionen
aus den Bewegungen urzeitlichen Lebens-
kampfes werden: Angriff und Abwehr, weg-
stoßen, fliehen, drohen und unterwerfen. Das
ist bereits in den Blättern "Mirakel" und
"Stigma" aus der ersten Mappe ihrer Radie-
rungen erkennbar. Darüber hinaus werden
Bewegungsformen zu charakterologischen
Studien, und sie stehen für schicksalhafte Si-
tuationen - so in der Blattfolge "Geworfen -
Gestoßen - Gefallen". Jene weiten, großen,
schlagenden, stolpernden, strauchelnden und
fallenden Bewegungssituationen, die einem
unsicheren Körpergefühl zugeordnet werden
könnten, werden zu Sinnzeichen eines labilen
Weltgefühls.
Eine Reihe von Einzelbeobachtungen und
Feststellungen faßt sie in dem Blatt "Wege -
Nr.II" zusammen. In einem nur angedeuteten
imaginären Raum bewegen sich drei menschli-
che Gestalten, aber es sind drei unterschiedli-
che Charaktere, und sie stehen für drei sehr
verschiedene Lebenshaltungen. Im Vorder-
grund dominiert, unter der Last seiner selbst
zusammenbrechend, ein dunkles Wesen, seine
schweren, übergroßen Füße haften am Boden
und verhindern wie in einem Traumerlebnis
das Von-der-Stelle-Kommen, dabei helfen ihm
auch die rudernden Arme nicht. Plump und
schwer schleppt es sich mühsam dahin. Dahin-
ter, fast als Antithese zu ihm, eine schwebende,
getriebene Gestalt, deren spitz zulaufende Ex-
tremitäten keinerlei Bodenhaftung haben, kei-

nen festen Halt finden, die Arme sind wie Flü-
gel ausgespannt. Trotz aller Grazie wird sie
wohl immer wie ein Blatt im Wind der Zeit
umhergetrieben werden. Die dritte Figur im
Hintergrund scheint noch nicht endgültig auf-
gebrochen zu sein. schauend, suchend erkun-
det sie erst einmal die Situation. Obwohl der
Körpergestus der einzelnen Gestalten deutlich
herausgearbeitet ist, wirken sie wie körperlose
Schemen, wie Schatten ihrer selbst, in dem
diffusen Lineament der Radierung ist nichts
festgeschrieben, nichts festumrissen und fest-
gelegt - Grundmuster sind erkennbar, Indivi-
ualität ist ausgeklammert.
Von großer Bedeutung, der menschlichen
Schicksalhaftigkeit von Geworfen- und Ver-
haftetsein zu entkommen, ist das Entdecken
des Tanzes als einer Kunstform, die es ermö-
licht, sich selbst und das eigene Lebensgefühl
über den Körper zu artikulieren und gleichzei-
tig über den Bewegungsrhythmus zu harmoni-
sieren. Folgerichtig wendet sich Mechthild
Mansel nun in ihren Radierungen auch dem
Tanz, der tänzerischen Leichtigkeit zu. Durch
eine spezifische Lichtwirkung und den sparsa-
men Einsatz von Farbe assoziiert sie die
Chance der Transzendierung.
Neben den menschlichen Schicksalsgestalten
sind es immer wieder auch die mythologischen
Prototypen, denen sich Mechthild Mansel zu-
wendet. Die Ur-Mutter Gäa, die groß und
schwer in ihrer Gravidität in sich ruht, oder der
hockend in sich zurückgezogene Sisyphos, der
sich nunmehr aller sinnlosen Aktivität zu ent-
ziehen versucht. Zu diesen Blättern gehört
auch die Radierung zu Dürrenmatts Erzäh-
lung "Grieche sucht Griechin", wo eine nicht
unbedingt den Normen kleinbürgerlicher Mo-
ral entsprechende Frau in ihrer dominanten
Weiblichkeit Größe erlangt. Eine Sonderstel-
lung unter ihren Radierungen nimmt zweifel-
los ein lebensgroßer, porträthaft aufgefaßter
Kopf "Anan ben David" ein, der ebenfalls
durch eine Erzählung Dürrenmatts angeregt
wurde. Ein Gleichnis, das sich um die jahrtau-
sendealte Gestalt des "ewigen Juden" rankt.
Gottsuche und Gefangenschaft, Leid und An-
nahme des Leids als etwas Unabänderliches
und schließlich Überwindung des Leides in ei-
ner Art Anästhesie. Obwohl gerade in diesem
Blatt Mechthild Mansel nahezu alle artifiziell -
technischen Möglichkeiten ausschöpft, die die
Radierung bietet, drängen sich diese nicht in
den Vordergrund, sondern dienen einer unge-
heueren Ausdrucksintensität.
Auch wenn sich die vorgestellten Arbeiten der
Grafikerin Mechthild Mansel wie ein in sich
geschlossener Block präsentieren, ihr Bemü-
hen, das menschliche Dasein in seiner Wider-
sprüchlichkeit künstlerisch auszuloten, dem
menschlichen Lebensgefühl mit ihren Mitteln
Ausdruck zu verleihen, wird weitergehen.



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